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Tagebuch meines Lebens

Autobiographie eines Glasers aus dem Paris des 18. Jahrhunderts, Historische Zeitbilder 11

Erschienen am 15.10.2021, Auflage: 1/2021
26,90 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783885713982
Sprache: Deutsch
Umfang: 348 S., 16 Illustr.
Format (T/L/B): 2.6 x 21 x 14.3 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Autobiographie eines Glasers aus dem Paris des 18. Jahrhunderts.

Autorenportrait

Günter Berger, Dr. phil., war von 1986 bis 2012 Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur französischen Literatur der Aufklärung, darunter zur Enzyklopädie, zur populären Kultur im Frankreich der Frühen Neuzeit, vor allem zur Bibliothèque Bleue, die mittelalterliche Erzählungen für ein breites Publikum bereitstellte, und zum Memoirenroman dieser Epoche, in dem sich Fakten und Fiktionen munter mischten.

Leseprobe

Leseprobe: Tagebuch meines Lebens, S. 210-224 Eines Abends, als ich vom Abendessen bei meiner Witwe zurückkam und mich von meinem Schwager getrennt hatte, sehe ich, als ich an der Rue Montmartre vorbeikomme, einen Mann, der aus einem Hauseingang herauskommt, ein Mädchen am Arm gepackt hält und es unter Drohungen vor die Tür setzt. Es war spät. Ich gehe näher und sehe ein Mädchen in Tränen aufgelöst. Ich tröste sie und sage zu ihr, dass sie, wenn sie es wünsche, in aller Sicherheit mit mir kommen könne. Sie zögert. Endlich entschließt sie sich, und ich nehme mein Hühnchen mit und vergrößere noch einmal meine Familie. Die Kleine verdiente wohl meine Aufmerksamkeiten. Sie war reizend. Ihr Vater war ihren Behauptungen nach ganz vom Typ des meinen. Wenn er getrunken hatte, schickte er sie fort zu den Verwandten ihrer Mutter, die Waise war. Nachdem ich sie gut hatte frühstücken lassen, ging sie zu ihren Verwandten und gab mir das feste Versprechen, mich besuchen zu kommen -, was sie hielt. Sie war die Sanftmut selbst. Das zeigte mir, wie viel Schuld Väter durch ihre Trunksucht am Verderben ihrer Kinder haben. Als ich meine Jugendstreiche niederschrieb, habe ich sie nicht ohne Prahlerei, ohne Moralisieren und ohne Reflexion niedergeschrieben. Als ich eines Morgens auf den Boulevards spazieren ging, bemerke ich zufällig die junge Pinard, die sich mir sehr freundlich zeigt und sagt, dass sie sich erkundigt hat, wo ich sein könne, aber dass all ihre Nachforschungen erfolglos gewesen seien. Sie war prächtig gekleidet. Sie schlägt mir vor, in eine Kneipe zu gehen. Wir gehen zu Erklärungen über: Ihr Vater hat den Laden verkauft. Eines Tages, als er betrunken war, hat er sich den Arm gebrochen, an dem ich ihm das Handgelenk gebrochen hatte. Es ist zu einer Entzündung gekommen; er war ins Hôtel-Dieu gegangen, und man hatte ihn ihm abgenommen. Aber sie wollte mir nicht den gemeinen Beruf sagen, den er ausübte. Ihre Mutter sei mit einem guten Bauern auf dem Land zusammen; ihre Schwester sei mit einem gewissen Jouanin, einem Uhrmacher, nach Lyon fortgegangen. Was sie angehe, so sei sie dabei, mit ihrem Zuhälter, der gewaltig reich sei, ins Ausland zu wechseln. Ich wollte ihr vorher noch einmal zu erkennen geben, worin ich mich auskannte, bevor ich ihr Lebewohl sagte, indem ich sie auf mein Zimmer mitnahm, was sie huldvoll annahm. Und so sagte ich ihr Lebewohl wie auch ihrer liebenswürdigen, ausgezeichneten Familie. Ich ging Monsieur Murat, den Kommandanten der Feuerwehr wieder besuchen, von dem ich gut empfangen wurde und der mir sagte, dass er eine Reform machen und die Truppen der Feuerwehr in ihrem Ansehen stärken würde und dass jeder Feuerwehrmann über seiner Tür ein Schild mit der Inschrift "FEUERWACHE DES KÖNIGS" in Großbuchstaben haben müsse. Ich erhielt meinen Posten zurück, mit denselben Zuwendungen wie zuvor. Mein Vater erhielt einen Einladungsbrief - wie auch einen für mich - eines meiner Cousins mütterlicherseits, der seine erste Messe in Notre-Dame in der Chapelle de la Vierge hielt, wo er Chorknabe gewesen war. Und er war zum Schlosskaplan des Herrn Bischof von Lombez ernannt worden. Da wir oft zusammen Streiche gespielt hatten, erkannte ich sofort, dass es bei ihm mehr um Ehrgeiz als um religiöse Überzeugung ging - nach all den Albernheiten, über die wir uns zusammen amüsiert hatten, und dass er diesen ganzen Mysterien keinerlei Glauben schenkte und sie als reines Menschenwerk betrachtete, alles aus Unwissenheit erfunden und durch Lüge als Glaubensartikel gestärkt. Da ich mir in dieser Schrift keine Reflexionen gestattet habe, will ich keine weiter machen. Alle meine Verwandten schauten ihm beim Lesen der Messe mit einer Andacht zu, die bis zur Anbetung ging. Ich aber, ich dachte ganz anderes. Ich war nie ein Glaubensfanatiker, ich habe niemals geglaubt und werde niemals glauben, dass irgendein Wesen auf der Erde imstande ist, nach seinem Willen einen Gott auf seinen Altar hinabsteigen zu lassen und ihn hinunterzusch